Essstörung

Im Wesentlichen werden drei Formen der Esstörungen unterschieden: die Magersucht (Anorexia nervosa), die Bulimie (Bulimia nervosa) und die „Binge-eating“-Störung. Diese Störungen können auch ineinander übergehen oder sich abwechseln. Es lassen sich auch nicht alle Essstörungen in diese drei Hauptkategorien einordnen, sodass Essstörungen sich ganz unterschiedlich zeigen können. Gemeinsam ist allen Essstörungen, dass Gedanken/Gefühle auf Essen bzw. Nicht-Essen fixiert sind und dies den Tagesablauf, Beziehungen und allgemein das Leben der Betroffenen bestimmt.

Über die Beratungsstelle in Friedrichshafen gibt es die Möglichkeit, an einer Gesprächsgruppe für Frauen mit Essstörungen (Mindestalter 18 Jahre) teilzunehmen.

Im Folgenden erzählen Betroffene aus der Gruppe vom Leben mit der Krankheit.

 


Diagnose Essstörung: Wenn Essen zur Qual wird

Bei Tag die erfolgreiche Sportlerin, die Klassenbeste, die unternehmungslustige Freundin. In der Nacht die Schlaflose, die das Essen im Mülleimer versteckt und danach manisch stundenlang die Treppen rauf und runter sprintet. „Es ist ein Doppelleben“, erzählt die junge Frau und scheint selbst fassungslos über ihren Bericht. Die anderen Drei nicken zustimmend. Sie alle kennen das Gefühl, wenn sich das Leben nur noch ums Essen und den Körper dreht. Es ist Mittwochabend. Jede Woche trifft sich zu dieser Zeit die Gruppe für Frauen mit Essstörungen. Man kennt sich inzwischen, vertraut einander. Was in dem kleinen Raum im dritten Stock besprochen wird, verlässt ihn auch nicht. Die Stimmung im Stuhlkreis ist gelöst, es wird auch gelacht, obwohl das Thema, das sie alle hierher geführt hat, alles andere als komisch ist. „Bei den psychischen Krankheiten führt die Magersucht am häufigsten zum Tod“, sagt Claudia Arnegger, Diplom-Psychologin und Leiterin der Gruppe. Keine der vier anwesenden Frauen wollte an ihrer Essstörung sterben. Die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, hat sie hierher geführt. Ein großer Schritt, wie Arnegger erklärt: „Essgestörte streiten ab, dass sie krank sind. Die Einsicht ist der erste Schritt zur Genesung.“


Das Streben nach Perfektion

„Es hat mit Zeitschriften angefangen, überall waren diese schönen, superschlanken Mädchen, in jedem Heft ging es um Diäten und Fitness“, beginnt Nadine (alle Namen wurden geändert) zu erzählen. Sie war 14, mitten in der Pubertät, und empfänglich für das, was von der westlichen Gesellschaft als schön und erfolgreich propagiert wird. Erfolgreich sein, das war Nadine am wichtigsten. „Ich definiere mich über meine Leistung, deshalb musste ich überall die Beste sein“, erzählt sie. Nahrungsmittel teilte sie, wie die meisten Essgestörten, in „gut“ und „schlecht“ ein, jede Kalorie wurde penibel gezählt. Bei Ausrutschern, wie dem Biss in eine Tafel Schokolade, bestrafte sie sich selbst. Irgendwann bestand Nadine nur noch aus Knochen, Haut und Muskeln. Diagnose: Sportsucht verbunden mit einer Orthorexia nervosa, der zwanghaften Achtsamkeit auf die Ernährung.

Auch bei Sabine begann die Essstörung im Jugendalter. „Bei meinem Abitur wog ich 35 Kilo – und fühlte mich immer noch zu fett“, erzählt sie. Die Magersucht, medizinisch Anorexia nervosa genannt, bestimmte ihr Leben über Jahre. Und das nicht nur tagsüber, sondern auch im Schlaf. „Ich habe von Essen geträumt, mir Pläne gemacht, wann ich die halbe Mandarine, die ich am Tag zu mir nahm, essen würde.“ Wenn Eltern oder Freunde sie auf ihren Zustand ansprachen, wiegelte sie ab, behauptete, es sei alles in Ordnung. „Ich habe mich nicht krank gefühlt, im Gegenteil, ich war stolz, dass ich diese Disziplin hatte, diese Stärke nicht zu essen, obwohl der Magen jahrelang knurrte.“

Irgendwann war ihr Körper am Ende, Sabine landete in der Klinik. „Das Risikoalter für eine Ersterkrankung an Anorexia nervosa liegt im Jugendalter, zwischen 14 und 18 Jahren“, erklärt Arnegger. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erkranken 1,1 Prozent der Frauen aber auch 0,3 Prozent der in Deutschland lebenden Männer an einer Anorexie. Etwa zehn Prozent der Magersüchtigen sterben an der Krankheit. Ursachen sind Organschäden, Schwächung des Immunsystems, plötzlicher Herztod aufgrund von Herzrhythmusstörungen, aber auch Suizid.

In Marias Heimat gelten Kurven als weiblich. Als sie vor einigen Jahren nach Deutschland zog, wurde sie mit den deutschen Schönheitsidealen konfrontiert. „Bei uns daheim hat man mit Genuss gegessen. Hier wurde ich ständig darauf hingewiesen, was man besser nicht essen sollte“, erinnert sie sich. Irgendwann wusste Maria nicht mehr, was sie essen darf und was nicht. Regeln, Ideale und das neue Leben führten zum Kontrollverlust. „Dann dachte ich mir, dann kotze ich es eben einfach wieder aus“, erzählt sie lachend. Anfangs sei es nur ein Spiel gewesen, irgendwann jedoch ein ernsthafter Zwang.

Etwa ein bis zwei Prozent der in Deutschland lebenden Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Bulimia nervosa, sowie 0,1 Prozent der Männer. Die Sterblichkeitsrate sei bei dieser Essstörung geringer, aber nicht ausgeschlossen, erklärt Arnegger. Da durch das ständige Erbrechen der Elektrolyt-Haushalt gestört ist, kann der Kreislauf zusammenbrechen und weitere Folgeerkrankungen auftreten. Je nach Lage können dabei lebensbedrohliche Situationen entstehen.

Nicht normal war auch Saskias Kindheit. „Ich hatte familiäre Probleme, unter anderem verursacht durch ein ebenfalls suchtkrankes Elternteil“, reißt sie die Ursache kurz an. Ihren Frust, ihre Angst und Hilflosigkeit versuchte sie mit Hilfe von Essen zu kompensieren. „Natürlich wurde ich gehänselt, ich wurde zur Außenseiterin und habe noch mehr gegessen“, erzählt die junge Frau. Mit 28 Jahren wog sie 120 Kilogramm, ein Gewicht, das ihrem Körper so schwer zusetze, dass ihr Arzt ihr zu einer kontrollierten Gewichtsabnahme riet. Mit einer Ernährungsumstellung und ausreichend Bewegung verlor sie Gewicht –bis auch das zum Zwang wurde. „Ich dachte ständig, die kleinere Kleidergröße schaffe ich auch noch, das eine Kilo verschwindet auch bald“, erinnert sie sich an den Übergang vom Übergewicht zur Magersucht. Irgendwann wog sie nur noch 43 Kilogramm.

Der Übergang von der einen zur anderen Essstörung sei keine Seltenheit, weiß Arnegger. Gerade bei Bulimikerinnen, die bei Krankheitsbeginn meist zwischen 15 und 22 Jahren alt sind, geht oft eine Magersucht -Erkrankung voraus. Wenn der Körper aufgrund der immensen Belastungen nicht mehr funktioniert wie er sollte, würde das von vielen Erkrankten oft sehr lange als normal wahrgenommen, oder ganz ausgeblendet, sagt Arnegger.

„Es ist unglaublich, wie lange ein Körper das mitmacht“, sagt Sabine kopfschüttelnd. Sie kämpft inzwischen seit knapp 20 Jahren mit der Magersucht, die sie zwischenzeitlich überwunden hatte. Vor acht Jahren stellte sie ihr Lebensgefährte vor die Wahl: Entweder, Sabine ließe sich behandeln, oder er würde die Beziehung beenden. „Da war er mir wohl wichtiger“, sagt Sabine lächelnd und dreht an dem Ring an ihrer rechten Hand. Inzwischen ist sie mit dem Mann, der sie in die Klinik schickte, verheiratet.

Für fast alle der vier Frauen war der Partner eine der Hauptursachen, sich in Behandlung zu begeben. Bis auf Maria, die von alleine merkte, dass etwas nicht stimmt.


Der Wunsch nach Normalität

Nadines Störungen kamen mit der Umstellung von der Schule ins Berufsleben ins Wanken. „Da hab ich gemerkt, so wie ich lebe, kann man kein normales Leben führen“, sagt die junge Frau. Ihr Partner habe sie zusätzlich motiviert. Der gemeinsame Alltag helfe beim regelmäßigen Essen erzählt sie.

Bei Saskia ist es ihr Wunsch nach Kindern, der sie antreibt. Während ihrer Magersucht blieb die Menstruation aus. Danach dauert es eine ganze Zeit, bis wieder die Möglichkeit zu einer Schwangerschaft besteht.

Der Weg zur Genesung ist lang. „Es gibt keine Medizin, die man schlucken kann. Es ist ein ständiger Kampf, bei dem es auch Rückschläge gibt“, sagt Nadine. Was sie alle durchhalten lässt, ist die Hoffnung auf ein normales Leben. „Essstörungen führen in die soziale Isolation. Neben einem normalen Essverhalten geht es auch darum, wieder ein normales Umfeld aufzubauen und die Freizeit aktiv zu gestalten“, sagt Arnegger. Das haben viele der Frauen in der Gruppe bereits geschafft. „Am Ende muss man es selbst wollen, um es zu schaffen. Aus Liebe zu sich selbst“, erklärt Sabine.


HILFE UND ANLAUFSTELLEN

Materialien zur Aufklärungsarbeit an Schulen bietet die Initiative „Bauchgefühl“ der BKK unter www.bkk-bauchgefuehl.de. Weitere Informationen zum Thema Essstörungen für Betroffene und Angehörige bietet auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter www.bzga-essstoerungen.de. Kontakt zur Häfler Gruppe für Frauen mit Essstörungen besteht telefonisch unter (07541) 950180.

„Die Krankheitseinsicht fehlt oft“
Claudia Arnegger ist Diplom-Psychologin und betreut regelmäßig die Gruppe der Frauen mit Essstörungen.

Was kann eine Essstörung auslösen?
Hier sind vor allem vier Ursachenbereiche zu nennen – zum einen biologische Faktoren. In Zwillingsstudien konnte eine genetische Disposition für Essstörungen nachgewiesen werden. Der zweite Einflussbereich sind die so genannten „soziokulturellen Faktoren“: Rollenbilder und Schönheitsideale, die einem Gesellschaft und Medien präsentieren. Aber auch Persönlichkeitsmerkmale als dritter Bereich können die Entwicklung einer Essstörung unterstützen. Magersüchtige sind oft sehr ehrgeizig und diszipliniert, haben aber auch häufig das Gefühl von Unsicherheit und Unzulänglichkeit. Auch familiäre Einflüsse können eine Rolle spielen.

Was können Angehörige tun?
Wenn es sich um Minderjährige handelt, sollten Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen. Dieser überweist dann bei ausgeprägtem Untergewicht oder anderen Essstörungssymptomen an einen Kinder-und Jugendpsychiater oder Psychotherapeuten. Dort wird ein Therapieplan erarbeitet. Da die Krankheitseinsicht bei Essstörungen oft fehlt, ist die Begleitung durch die Eltern–häufig auch mit Nachdruck–wichtig. Die mangelnde Einsicht macht es schwer, Erwachsene einer Behandlung zuzuführen. Hier bleibt den Angehörigen oft nur, ihre große Sorge zu äußern und der Betroffenen anzubieten, sie zum Arzt zu begleiten.

Was ist gefährlich an Essstörungen?
Neben der hohen Sterblichkeitsrate bei Magersucht treten auch viele Folgeerkrankungen auf, von Untertemperatur mit Frieren über Haarausfall bis hin zu Herzrhythmus-Störungen. Bei der Bulimie können Speiseröhrenreizungen, Karies und bedrohliche Elektrolytentgleisungen auftreten.